Zweites Chopin-Festival in Hamburg

Moderne vs. historische Flügel

„Herzlich willkommen zum 2. Chopin-Festival Hamburg“, begrüßte der Intendant Herr Prof. Hubert Rutkowski die Gäste, Sponsoren und Mitwirkenden. Herr Dr. Hans Bäßler – Seniorprofessor an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Pädagoge, Wissenschaftler und Autor – ergriff das Wort, um die Gäste auf das Festival einzustimmen und ihnen sowie den Sponsoren, Orlen und Kawai, zu danken. Auf das erfolgreiche 1. Chopin-Festival Hamburg 2018 folgte das 2. Festival 2019. Gleich und doch anders sollte es sich gestalten.

In diesem Jahr fanden zwei Experimente statt, deren Ausgang selbst für die Festivalleitung und Künstler nicht vorhersehbar war. Die Experimente bestanden u. a. darin, dass an jedem einzelnen Konzertabend mindestens ein historisches und ein modernes Piano erklingen, so dass die Wirkung der Gegenüberstellung der Klänge direkt von den Gästen erfahren werden kann.


Der vierte und der fünfte Abend ließen Überraschungen offen, denn der „Wettbewerb“ der Instrumente wurde hier anders als in den vorangegangenen Konzerten realisiert. Einmal spielten nämlich zwei Pianisten an einem Abend teilweise dieselben Stück auf unterschiedlichen Pianos – beim abschließenden Konzertabend trat ein Trio auf, in dem der Pianist sowohl einen historischen als auch einen modernen Flügel spielte, die Streichinstrumente aber dieselben blieben.

Das Motto „Klaviermusik neu erleben – Historische und moderne Instrumente im Wettbewerb“ bekam in diesem Jahr eine neue, frisch-experimentelle Dynamik. Jeder einzelne Konzertabend steht mit dem Charakter des Künstlers, seiner Einmaligkeit für sich. Vielen herzlichen Dank, liebe Gäste, Künstler, Sponsoren und Organisatoren, dass Sie diese wunderbaren Festivalerlebnisse ermöglicht haben.


Noch bevor der erste Festivalabend begann, herrschte bereits im Foyer des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg eine gespannt-freudige Atmosphäre. Der Raum der Sammlung Musikinstrumente strahlte eine Aura aus, die optimal auf die folgenden Programme – der folgenden Konzertabende im MKG – einstimmte.

Das zweite Mal fand das mit Begeisterung aufgenommene Chopin-Festival Hamburg statt. Künstler, Gäste, Mitarbeiter, ja auch wir von der Gesellschaft, zeigten sich euphorisch über die unvergleichlichen Erlebnisse, die uns die einzigartigen Künstler mit ihrer Leidenschaft für die Musik bescherten und die Experimente durchweg gelingen ließen.


1. Konzertabend – Clara Schumann und Chopin

Den Auftakt des musikalischen Festivalparts leitete die Clara-Schumann-Expertin Ragna Schirmer ein. Sie selbst führte nicht nur musikalisch, sondern auch informativ durch den Abend. Die Gäste erfuhren von der aufgeschlossenen Pianistin wertvolle Details über Clara Schumann und die Instrumente, so dass die Musik auch in dieser Hinsicht ihre volle Wirkung entfaltete.

Drei Flügel spielte Ragna Schirmer: Erst einen Pleyel-Flügel von 1847, dann einen Brodmann-Flügel von ca. 1815 und einen Shigeru-Kawai-Flügel von 2019. Auf allen Flügeln schien sie ‚zu Hause‘ zu sein. In ihrem weichen, brillanten und freien Spiel zu bildete sie auf beiden Instrumenten die klarsten Stimmfärbungen heraus. Im Hintergrund an den Fensterscheiben des Raumes waren Chopin-Portraits angebracht, die zu Ragna Schirmers leichtem Spiel zu tanzen schienen. Ragna Schirmer ist Gewinnerin der renommierten Bach-Preise; bei diesem Konzertabend klangen ihre Erfahrungen mit und ihre Interpretationen waren durch und durch als ‚chopinesk‘ zu verstehen.


Zur zweiten Konzerthälfte begab sich das Publikum von der Sammlung Musikinstrumente in den Spiegelsaal des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg. Auf der frisch sanierten Bühne erklang der moderne Shigeru-Kawai-Flügel.

Auf diesem Flügel wählte Ragna Schirmer historisch orientierte Interpretationen. Auf diese Weise ließ sie das Publikum ihre einzigartige Sensibilität für die Musik, Epochen und Instrumente spüren: Eine zeitgenössische Pianistin interpretiert in historischem Stil auf einem modernen Flügel in einem historischen Ausstellungsraum. Fast impressionistisch, aber immer mit der Idee des ‚Chopinesken‘, mutete ihre Klangwelt an.


2. Konzertabend – ‚Chopin in Person‘

Der gefeierte Pianist Janusz Olejniczak ist nicht nur Musiker, sondern auch Schauspieler und Pädagoge. 1991 verkörperte er selbst den Charakter Chopin in Andrzej Żuławskis Film La Note bleue und doubelte 2002 die Hände Adrien Brodys als Władysław Szpielman in Roman Polanskis Film The Pianist.

Dass Janusz Olejniczak der chopinʼschen Musik nahe steht, wurde auch beim 2. Konzertabend des Chopin-Festivals deutlich. Eine Gänsehautatmosphäre durchzog den Saal, als Janusz Olejniczak dem Pleyel-Flügel von 1847 die ersten Klänge Chopins Nocturne cis-Moll entlockte. Dieses Stück sei für ihn von wertvoller Bedeutung: Er hätte nie gedacht, dass dieses Stück eines Tages für ihn so bedeutsam sein würde; es beinhalte so viele schicksalhafte Ereignisse, die nicht nur ihn beträfen.


Das schrecklichste an einem Konzertabend, ließ Janusz Olejniczak mit einem Augenzwinkern verlauten, sei die Pause. Er sei nach der ersten Konzerthälfte voll von Inspiration und Kraft, die er am liebsten sofort auf die noch folgenden Werke übertragen würde. Spontan entschied sich Janusz Olejniczak, auch den Beginn der zweiten Konzerthälfte mit dem für ihn bedeutsamen Nocturne cis-Moll beginnen zu lassen. Während des Konzerts mischte sich Janusz Olejniczaks Melancholie mit seinem Gespür für Humor.

Authentisch und sympathisch begegnete er dem Publikum. Zur zweiten Hälfte im Spiegelsaal lagen von Orlen spendierte Pralinenschachteln aus. Ohne Zögern griff sich der Pianist eine der Pralinen, die er sich genüsslich auf der Bühne vor Beginn des musikalischen Vortrags munden ließ. Es sollte nicht bei einer Praline bleiben; einige Gäste antworteten, in dem sie ebenfalls Pralinen aßen.


Janusz Olejniczaks Spiel zeugte durchweg von Spontaneität, Gewissenhaftigkeit, Eleganz, Leichtigkeit und auch Schwermut. Von dem modernen Kawai-Shigeru-Flügel von 2019 war Janusz Olejniczak höchst angetan. Er müsse keine Befürchtung haben, eine Taste zu leicht anzuschlagen, um einen Klang zu erzeugen. Und jede Taste ließe sich gleichmäßig drücken, so dass eine Ausgewogenheit entstünde. Seine Begeisterung, besonders für das Pianissimo und Triller auf diesem Flügel, wurde während seines Spiel merkbar. Triller, leise Passagen, Fermaten… kostete er aus und interpretierte in zartesten, geheimnisvollsten Klängen.

Zwischen den Stücken wandte er sich häufig an die Gäste, um ihnen Informationen zu den Stücken mitzuteilen. Ebenso offen und herzlich gestaltete Janusz Olejniczak pralinenkauend das abschließende Künstlergespräch mit dem Publikum.


3. Konzertabend – Alt und neu?

Wer sich am 16. Februar 2019 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg befand, wird sich sicherlich an den jungen talentierten Tomasz Ritter erinnern. Die Gäste, die auch dieses Konzert besuchten, hatten am 22. Juni 2019 nicht nur die Möglichkeit, einen direkten Vergleich zwischen dem historischen Steinway-Flügel von 1872 und dem modernen Shigeru-Kawai von 2019 zu ziehen, sondern auch zwischen Tomasz Ritters Interpretationen. Tomasz Ritter spielte Robert Schumanns Fantasiestücke op. 12, von denen er Warum? am 16. Februar auf einem Pleyel-Flügel von 1847 vortrug. Vor der Pause konnte ihm das Publikum lauschen, wie er auf einem historischen Steinway-Flügel von 1872 Chopins Werke interpretierte: Polonaise gis-Moll, Mazurkas op. 33 Nr. 1 bis 4 und Sonate Nr. 3; nach der Pause dann auf einem modernen Shigeru-Kawai-Flügel von 2019: Robert Schumanns Fantasiestücke und Sergej Rachmaninovs Élegie es-Moll, Étude-Tableaux d-Moll und Toccata d-Moll.


Der historische Steinway-Flügel von 1872 weist Attribute auf, die auch heutzutage standardmäßig im Pianobau verwendet werden. Somit ist dieser Flügel im Klang dem Kawai-Shigeru-Flügel von 2019 näher als alle anderen historischen Pianos, die beim Festival erklangen. Der Saitenzug des Steinway-Flügels ist sehr hoch; er hat einen kreuzsaitigen Bezug, einen gusseisernen Rahmen und Anhangstreben, was zu einem voluminöseren Klang und höheren Differenzierungsmöglichkeiten in der Dynamik führt.

Auf beiden Flügeln traf Tomasz Ritter traf den inneren Charakter der Stücke. Angenehm lebendig, frei und würdevoll zog er das Publikum in seinen Bann. Manchmal schien es, als würden die Klänge unter seinem Spiel lebendig und gestalteten in einer anderen Sphäre mit dem jungen Tomasz Ritter das Programm. Ein verträumter Chopin, ein wuchtiger Rachmaninov, ein melancholischer Schumann. Seine interpretatorischen Ideen schienen die Wirklichkeit aufzulösen.


4. Konzertabend – Das andere ‚Duo‘

Historische und moderne Instrumente im Wettbewerb – wortwörtlich beim 4. Konzertabend zu erleben. Denn die Pianisten Hélène Tysman und Tobias Koch interpretierten auf einem modernen Shigeru-Kawai-Flügel von 2019 und einem historischen Pleyel-Pianino von 1832 teilweise dieselben Werke. Der Abend stand ganz im Zeichen Frédéric Chopins Musik. Dass für den historisch-modernen Vergleich das Pleyel-Pianino gewählt wurde, ist kein Zufall. Denn Chopin selbst musizierte auf einem Modell aus dieser Pianino-Serie der Klaviermanufaktur Pleyel.

Tobias Koch entführte die Gäste in die authentische Welt der romantischen Klaviermusik. Mit gedimmtem Licht und Ruhe erzeugte er eine magische Stimmung, die die Musik, den Pianisten, das Pianino umhüllte und die Gäste ergriff. In dieser Stimmung interpretierte Tobias Koch einige Préludes op 28, die Ballade Nr. 4, das Scherzo Nr. 3, den Walzer op. 34 Nr. 2 sowie die Nocturnes op. 9 Nr. 3 und op. 15 Nr. 1.


Tobias Koch und das Pleyel-Pianino schienen miteinander zu kommunizieren und aufeinander einzugehen. Warm-weiche, fantastische Klänge zeugten von der hohen Qualität des Instruments, mit denen Tobias Koch den Gästen seine historisch-inspirierten Interpretationsideen präsentierte. Er verstand es, das Publikum gänzlich in die Salon-Atmosphäre eintauchen zu lassen, in der er selbst ein Stück von Chopins Person in die Sammlung Musikinstrumente des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg holte.

Ebenso fantastisch, doch mit anderen Klängen, bannte Hélène Tysman das Publikum. Der Shigeru-Kawai-Flügel SK 5 von 2019 bietet sich nicht nur für große Säle, sondern auch für salonähnliche Konzerte an. Romantische Musik auf einem brandneuen Flügel. Für Hélène Tysman kein Widerspruch. Ebenso zauberte auch sie eine Salonatmosphäre mit zauberhaften Klängen, gezielt historischem Pedaleinsatz und Akzentuierungen im Melodie- und Bassverlauf.


Das Publikum konnte direkt vergleichen: Hélène Tysman wählte Chopins Werke Ballade Nr. 1 op. 23, Préludes op 28 Nr. 3, 8, 15, 16, 24, 4, Nocturne op. 15 Nr. 1, Nocturne op. 9 Nr. 3, Mazurka op. 17 Nr. 4 und Ballade Nr. 4.

Im Künstlergespräch offenbarten die beiden Pianisten, dass es für sie kein ideales Instrument für genau eine Musikrichtung bzw. genau ein Werk gäbe. Um das zu demonstrieren, gab Tobias Koch Jazzklänge auf dem historischen Pianino zum besten.


5. Konzertabend – Ein Kammermusikabend

Der Aufführungsort des letzten Konzertabends war der elegante Werner-Otto-Saal der Hamburger Kunsthalle. Norbert Kölle, kaufmännischer Geschäftsführer der Hamburger Kunsthalle, begrüßte die Gäste und stimmte auf einen „außergewöhnlichen Abend mit außergewöhnlichen Künstlern“ ein. Das grandiose Trio Andreas Staier, Daniel Sepec und Roel Dieltiens betrat unter erwartungsvoll-herzlichem Applaus die Bühne. Ihr klassisch-romantisches Programm sollte die Erwartungen des Publikums mehr als erfüllen. Daniel Sepecs Violine ist ein Originalinstrument aus Cremona von um 1780 des Instrumentenbauers Lorenzo Storioni. Roel Dieltiens interpretierte auf einem dem Cello Stradivarius von 1707 nachempfundenen Instrument, das 1992 von Martin Cornelissen erbaut wurde. Die Streichinstrumente wurden in Joseph Haydns Trio Nr. 3 Es-Dur durch den Pleyel-Flügel von 1847 ergänzt. Für Mozarts Klaviertrio Nr. 5 C-Dur entschied sich Andreas Staier für den modernen Steingraeber-Flügel von 2018. Das Besondere an diesem Instrument ist die Orientierung an historischen Pianos. Beispielsweise kann der Pianist Einstellungen ändern, die die Mechanik betreffen und einen Klang, ähnlich dem aus Mozarts Zeiten, bewirken.


Nach der Pause gab das Trio als letztes Programmstück des Festivals Schuberts Trio Nr. 2 Es-Dur zum besten. In allen Stücken entlockten die drei Musiker den Instrumenten die wunderbarsten, bis ins Detail aufeinander abgestimmten Klänge, die das Publikum so wunderbar einfingen.

Das Trio spielte nicht bloß gemeinsam; es kommunizierte, musizierte und ‚sang‘ instrumental miteinander, was die Begeisterung des Publikums steigerte. Für das Trio steht die Musik im Mittelpunkt, die durch das Instrument erklingt. Die Musik ist sei das wichtigste und nicht das Instrument, auf dem sie gespielt wird. Ein überaus lebhafter Kammermusikabend als Abschlusskonzert des Chopin-Festivals.


Piano nicht gleich Piano

Das Festival hat einmal mehr gezeigt, dass in der Klavierhistorie nicht von einem permanenten Fortschritt gesprochen werden kann – jedes Instrument ist auf seine Weise einzigartig und ‚das beste‘ Instrument für sich. Und alle Pianisten des Festival – Ragna Schirmer, Janusz Olejniczak, Tomasz Ritter, Hélène Tysman, Tobias Koch, Andreas Staier, Daniel Sepec und Roel Dieltiens – ließen die Instrumente auf ihre eigene, ganz besondere Art singen.

Auch die Meisterkurse, die auf historischen und modernen Instrumenten stattfanden, verdeutlichen optisch und visuell klangliche, bauliche und spieltechnische Unterschiede.

Herzlichen Dank an Sie, liebe Gäste, dass Sie mit uns die wertvollen Erfahrungen erlebt, die einzigartigen Momente geteilt und das gesamte Festival genossen haben. Auch gilt unser Dank den wichtigen Sponsoren und dem gesamten Festival-Team, die das 2. Chopin-Festival Hamburg 2019 erst ermöglicht haben!

Von Nora Ebneth, 27.06.2019
Alle Fotos © Thomas Zydatiß